Baltikum 2024

„Das einzig unveränderliche ist die Veränderung“ Laotse

Für dieses Jahr haben wir aus verschiedenen Gründen das Baltikum schon verlassen. Dieser Satz sagt vieles – es gibt Gründe, aber vor allem, dass wir wiederkommen wollen. Das Baltikum hat uns nämlich sehr gut gefallen, ausserordentlich gut sogar. Wobei, kann man das Baltikum als gesamtes beurteilen? Kann man ein Land überhaupt beurteilen? Kann man natürlich, immer als Momentaufnahme die individuell ist, aber auch veränderlich. Und auch einfach, weil man das machen mag. Ob es richtig ist – was weiss ich.

Als Erstes möchte ich schreiben – Baltikum ist nicht gleich Balkan. Da gibt es immer mal wieder Verwechslungen. Das Baltikum ist ein Gebiet in Europa, zu dem heute die Staaten Estland, Lettland und Litauen gerechnet werden. Diese baltischen Staaten haben insgesamt eine Bevölkerung von etwa sechs Millionen Menschen auf einer Fläche von etwa 175.000 km². An das Baltikum grenzen östlich Russland, Belarus, südlich Polen und die russische Exklave des Kaliningrader Gebiets sowie westlich und nördlich die Ostsee bzw. der finnische Meerbusen. Von der nördlichsten Spitze bzw. Tallinn ist man in einer guten Stunde in Helsinki Finnland.

Geschichte

Wer das Baltikum bereist merkt schnell, wie sehr die Geschichte dieses Landes Spuren hinterlassen hat. Um das ein bisschen zu verstehen ist es hilfreich, ein bisschen Geschichte zu kennen.

Im 18. Jahrhundert geriet das Baltikum durch den Grossen Nordischen Krieg und die Polnischen Teilungen unter die Herrschaft des russischen Zarenreichs. Diese Herrschaft dauerte bis zum Ersten Weltkrieg.

Im Gefolge des Friedensvertrages entstanden 1918 die unabhängigen Republiken Estland, Lettland und Litauen. Diese musste sich danach aber umgehend gegen die Machtansprüche der umliegenden Länder bis 1920 zur Wehr setzen.

1939 wurden erst Lettland und Estland, später auch Litauen, im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt als sowjetische Interessensphäre bezeichnet. 1940 erfolgte dann die Zwangseingliederung zur Sowjetunion. 1941 durch die deutschen Truppen besetzt. 1944 erfolgte dann die erneute Besetzung durch die Sowjetarmee und als Sozialistische Sowjetrepubliken der Sowjetunion einverleibt.

Nach dem Krieg wurden baltische Kommunisten aus der Sowjetunion an die Machtpositionen gesetzt. Die nicht geflüchteten, verbliebenen deutschstämmigen Personen wurden ab 1944 bis 1946 zum Großteil vertrieben, teilweise auch ermordet oder in sowjetische Lager verbracht. Kollaborateure mit den Deutschen sowie Gegner der Sowjet-Besatzung erlitten dieselben Folgen. Eine massive baltische Widerstandsbewegung versuchte noch Jahre nach Kriegsende, die Besatzungsmacht zu destabilisieren. Sie fanden Schutz in den Wäldern, weshalb sie sich als Waldbrüder bezeichneten. Sie wurden aber letztlich unterwandert und ausgeschaltet.

Die baltischen Bevölkerungen erlebten innerhalb weniger Jahre ab 1940 drei aufeinander folgende gewaltige Liquidations- und Deportationswellen:

  • 1940–1941: durch die Sowjetunion (Herrschaftsschicht, Militär, Wohlhabende, Geistliche und andere)
  • 1941–1944: durch das nationalsozialistische Deutschland (Juden)
  • 1944–1950: wieder durch die Sowjetunion (Kollaborateure, Widerstandskämpfer, Oppositionelle, wohlhabende Bauern und andere)

Von 1944 bis 1990 gehörten Lettland, Estland und Litauen zur Sowjetunion. In dieser Zeit wurden diese Länder, grösstenteils gegen den Willen der Bevölkerung, in das sowjetische System integriert. Diese Zeit war gekennzeichnet von der sowjetischen Ansiedlungspolitik von Russen, wodurch die angestammten Bevölkerungen zu Minderheiten im eigenen Land gemacht werden sollten.

Litauisch, Lettisch und Estnisch hatten in dieser Zeit neben dem Russischen den Status von Amtssprachen.

Am 23. August 1989 bildeten zwei Millionen Menschen den Baltischen Weg, eine Menschenkette über eine Länge von 600 Kilometern von Tallinn über Riga nach Vilnius, um für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten zu demonstrieren.

Insbesondere in Estland stellte die Singende Revolution einen starken Beitrag zur Unabhängigkeit dar. Im Frühjahr 1990 erklärten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit und deklarierten die Erneuerung der Vorkriegsverfassungen. Am 13. Januar 1991 gingen die promoskauischen und -kommunistischen politischen Kräfte zum Angriff über. Mit brutaler Gewalt wurde versucht, die rechtmässig gewählte Macht zu stürzen. Die Ausführung der Moskauer Pläne wurde durch den vom Volk organisierten gewaltlosen Widerstand vereitelt, der in die Geschichte als „Barrikaden-Tage“ eingegangen ist. Während der Januarereignisse in Litauen 1991 wurden beim Sturm des litauischen Fernsehturms in Vilnius 14 unbewaffnete und gewaltfreie Litauer ermordet und über 1000 verletzt.

Die Regierungen in Estland und Lettland verfolgten nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit bis Mitte der 1990er Jahre eine restriktive Politik gegenüber den ethnischen Minderheiten im Land. Vorherrschendes Ziel der beiden Länder nach der 50 Jahre währenden Besatzung bestand im Schutz der eigenen Kultur und Sprache. Anders gestaltete sich die Situation in Litauen, wo der Anteil der Titularnation höher und stabiler war und keine tatsächliche oder „gefühlte“ Bedrohung der Nation gegeben war. Die dortige Regierung verfolgte von Anfang an einen inklusiven Ansatz in der Integrationspolitik.

Am 1. Mai 2004 traten die baltischen Staaten der NATO und der EU bei.

Russen sind seit dem 9. Jahrhundert als Minderheit im östlichen Teil des Baltikums ansässig. Als Ergebnis der Zugehörigkeit des Baltikums zum Russischen Reich vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg und zur Sowjetunion vom Zweiten Weltkrieg bis 1990 sind rund 25 Prozent der Bevölkerung in Estland, 28 Prozent in Lettland und 6 Prozent in Litauen russischsprachig. Zudem gibt es im Südosten Litauens eine polnischsprachige Minderheit. Es gibt im östlichen Teil des Baltikums noch Gebiete, wo die russisch sprechende Bevölkerung die Mehrheit bildet. In der Grenzstadt Narva sprechen 95% russisch. Seit dem 01. August 2024 soll mit Übergangsregelung nur noch in der Landessprache unterreichtet werden. Aktuell ist die Befürchtung gross, dass man nicht genügend Lehrkräfte findet, die Estnisch unterrichten können. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/estland-sprache-russland-100.html

Die Geschichte und die Suche und der Erhalt von Tradition und Identität sind beim Besuch des Baltikums gut zu spüren. Die Menschen haben viel durch gemacht in den letzten Jahren und ihre Unabhängigkeit ist erst jung. Der aktuell sehr deutlich zu sehende russische Machthunger macht natürlich hier besonders grosse Sorge. Noch mehr Abgrenzung oder doch Inklusion der russischen Bevölkerung?

Viele sprechen nur Russisch und informieren sich in russischen Medien. Es heisst, 25 % sind gegen den Ukrainekrieg, 25% dafür und 50% unentschlossen. Ein Zeichen der Zerrissenheit?

Als Reiseland mit dem Wohnmobil ist das Baltikum genau das, was wir lieben. Viel Natur, viel Platz, entspannte Menschen und interessante Kultur.

Grösse

Schweiz 41’285 km²                         Einwohner 8.96 Mio.

Baltikum 175’015 km²          Einwohner 6.14 Mio. (LV 1.87, EST 1.37, LT 2.9)

Reisen mit dem Wohnmobil

Der Vergleich zeigt ein wichtiger Punkt auf, warum das Baltikum so wundervoll und entspannt zum reisen ist. Es ist 4 Mal so gross wie die Schweiz, hat aber nur etwa 2/3 der Bewohner. Also viel Fläche für alle. Natürlich kann man sagen, das ist in Schweden ähnlich. Nur ist da der Tourismus viel stärker, die Wohnmobildichte so viel grösser und das Verhalten einiger leider so, dass die Toleranz arg strapaziert wird.

Wir haben uns im Baltikum überall willkommen und absolut sicher gefühlt. Die Natur, die Tiere und die vielen Seen haben uns auch oft an Schweden erinnert. Nur das Wetter war dieses Jahr im Vergleich zu Schweden letztes Jahr viel besser. Wenig Regen und wir konnten einige Male mit Freude in den Seen baden gehen. Das viele Wasser, nicht von Oben, ist wirklich einfach schön. Auch gibt es in wunderschön angelegte Badeplätze mit Steg und natürlichem Sandstrand. Da muss man noch nicht mal immer dem Meer entlang fahren. Das Meer haben wir auf dieser Reise nicht so oft gesehen. Nicht weil es nicht schön war. Es lag einfach nicht gerade auf der gewählten Route und sollte auf dem Rückweg erkundet werden.

Aussichtstürme

Das Baltikum ist das Land der Aussichtstürme. Noch nie habe ich so viele Aussichtstürme verschiedenster, teilweise spektakulärer Art gesehen. Manchmal stehen sie in wundervollen Naturschutzgebieten mit Moor, Sanddünen usw. – die Natur ist wirklich vielfältig.

Architektur

Sehenswerte Architektur gibt es auch. Nicht immer schön, aber speziell, was in der Sowjetzeit gebaut wurde. Und eindrückliche Holzbauten. Sehr grosse, vielfältige, verschnörkelte, detaillierte Bauten und auch ganz einfache, schlichte und zweckmässige. Wie in Schweden meist ohne Zaun drum rum aber gekennzeichnet durch kurz gemähten Rasen. Auf Pingu gibt es dazu viel zu sehen.

Hunde

Im Baltikum gibt es wenige Hunde. Das macht es für uns sehr angenehm, einfach weil man wenige Hundebegegnungen hat. Dafür sieht man dann auch Dinge, die man lieber nicht sehen möchte. Wobei viele nett mit ihren Hunden umgehen. Dafür werden Nutztiere wie Kühe, Ziegen und Schafe häufig einzeln an Seilen oder Ketten in der Sonne auf einer Wiese abgestellt.

Essen und Trinken

Kulinarisch haben wir uns in dem Land sehr wohl gefühlt. Einzig schöne, frische Salat, am liebsten schon gewaschen, waren unüblich oder recht teuer. Dafür waren regionale Gemüse wie rote Beete, Kartoffeln, kleine Gurken, Karotten und Kohl unglaublich günstig. Heute habe ich Kartoffeln gesehen für 0.47 das Kilo. Und Buchweizen und Weizen geschrotet und gemahlen sind auch weit verbreitet. Wie das auch von uns geschätzte schwarze, mit Knoblauch geröstete Brot mit Käsesauce.
Vegane Produkte gibt es einige, je nördlicher umso mehr. Mit der Zeit findet man auch wirklich richtig gute Sache, die wir so noch nicht kannten. Diese sind aber meist recht teuer. Was uns überrascht hat ist, dass gefrorenen Spinat (für Lous Futter) oft schwierig zu finden war. Und wie wir es von Schweden schon kennen, haben auch die Balten einige Produkte mit für uns ungeniessbaren Menschen an Zucker. Saucen, Brot, Fertigsalate, Mayonnaisen usw. sind süss. Wenn man daran denkt darauf zu schauen, findet man es aber auch andere Produkte. Das Angebot ist insgesamt meist weniger umfangreich. Im ersten Moment scheint das ein Nachteil zu sein. Als wir dann in Deutschland war ich überrascht, wie sehr mich das enorme Angebot erschlagen hat. Ich war regelrecht überfordert – nach gefühlt so kurzer Zeit.

Strassen

Die Strassen im Baltikum sind sehr unterschiedlich. Es gibt kaum Autobahnen, sehr wenige doppelspurige Strecken und auch noch einige Schotterstrecken. Da wir meist ohne Zeitdruck unterwegs sind, war das aber nie ein Problem. Einzig bei sandigen Bereichen muss man achtsam sein. Da gibt es wohl den Einen oder Anderen, der sich schon festgefahren hat. So krasse rumpelpisten wie in Polen haben wir aber nie erlebt.

Wetterprognosen

Überrascht hat uns, wie wenig aussagekräftig im Baltikum Wetterprognosen sind. Die treffen wirklich selten so ein. Prognostizierter Regen bleibt häufig aus, auch wenn auf dem Radar zu sehen. Eine Erklärung dafür haben wir bekommen, die möglich sein könnte. Schon während Corona merkte man, wie sehr die Wettervorhersagen auch von Flugdaten abhängig sind. Wer im Baltikum unterwegs ist merkt rasch, dass es hier eigentlich keinen Fluglärm gibt, was sehr angenehm ist! Sogar in der Nähe des Flughafens Tallinn kommt gefühlt nur 4 Mal am Tag ein Flieger. Überflüge gibt es auch keine durch die militärischen Konflikte. Und so fehlen wohl diese Daten, um bessere Prognosen machen zu können. Wenn man sich daran mal gewöhnt hat ist das kein Problem.  Natürlich gäbe es über das Baltikum noch viel zu erzählen. Das ist ein kurzer Ausschnitt, der mir gerade so eingefallen ist. Schaut euch den Reisebericht an und lest die Texte, da werdet ihr sicher noch mehr Eindrücke bekommen.

Während ich das hier schreibe merke ich, dass ich gar nicht recht Werbung für das Baltikum machen will – es ist einfach zu schön und die Sorge da, dass es überlaufen wird von respektlosen Besuchern. Also passt – geniessen und freuen wer es erleben darf!

Schattenseiten

Natürlich gibt es auch Schattenseiten. Grad kommt mir die unglaubliche Freude an grossen Autos und lauten Motoren in den Sinn. Die Jugend hat oft kein eigenes Zuhause aber sicher ein grosses, lautes Auto mit einem Motor. Und es scheint eine ungeschriebene Regel zu sein, den Motor auch im Stillstand nie auszuschalten. Kreise drehen, aufheulen lassen, ziellos rum fahren sind das verbreiteste Hobby. Vielleicht weil Shoppen keines ist? (Wir wundern uns immer über Menschen, die Shoppen als Hobby bezeichnen). Und insbesondere in Landesteilen mit mehrheitlich russischstämmiger Bevölkerung ist laut feiern eine mitunter anstrengende Erscheinung aus unserer Sicht. Man fährt mit den grossen Autos in den Wald, macht als erstes ein stinkendes Feuer mit viel Brandbeschleuniger und dann holt man eine tischhohe Soundanlage mit bunten Lichtern raus und feiert. Generell merkt man rasch wie ein Ort tickt – die russischstämmige Bevölkerung hat weniger Individualdistanz und ist weniger zurückhaltend. So zumindest ist unser Eindruck. Dazu kommen dann bunte Kunstfasertextilien mit markanten Mustern die gerne auch wild kombiniert werden. Viel Schmuck und Schminke wird auch gerne getragen. Sichtbare Schönheitsoperationen, zusammen mit blondierten Haaren fallen auch immer mal wieder ins Auge.

Die Balten sind dagegen eher zurückhaltend und ruhig. Hier wird nicht gegrüsst. Wenn man sie jedoch anspricht, sich für sie interessiert dann sind sie unglaublich herzlich und offen. Es scheint wie ein Schalter, der sich umlegt und dann sprudelt die Herzlichkeit. Wir hatten wirklich ganz wundervolle Begegnungen. Manchmal nur mit Gesten und unverstandenen Worten, einige können aber auch durchaus gut Englisch.

Ein spezieller Beitrag gibt es noch zur Atomraketenbasis Zeltini und zur Krennholmi Manufaktuuri

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