„Vertrauen ist eine schöne Form von Mut“
Das riesige Gelände der ehemals grössten Fabrik der Sowjetunion, Krennholmi Manufaktur, ist nur jeweils sonntags mit einer Führung zugänglich. Auf der Seite von Visite Estonia steht, man muss sich nicht vorher anmelden. Bei unserem Besuch hat sich gezeigt, dass es gut war, dass wir vorher gebucht hatten. Hier kann man buchen. Es gab 2 Gruppen, Russisch und Estnisch. Die Gruppen waren etwa gleich gross – die Optik der Menschen hat sich für unser Auge klar unterschieden. Auf unsere Frage, ob auch Teile in Englisch möglich seien, war sie erst etwas irritiert. Das wir nicht alles verstehen, war für sie aber keine Option. Und so hat sie während der Führung schnell noch jemand organisiert, der schlussendlich eine Gruppe von etwa 20 Leuten auf Englisch durch die riesige Anlage führt. Ist das nicht extrem gastfreundlich? Der Besuch lohnt sich auf jeden Fall.


Geschichte
Die Kreenholmi Manufaktuur ist eine Textilfabrik, die 1857 von dem Bremer Kaufmann Ludwig Knoop zusammen mit den einheimischen Industriellen Kosma Soldatenkow (aus einer Altgläubigen Kaufmannsfamilie, der sich auch als Kunstmäzen einen Namen machte) und Alexei ludow (ebenfalls ein Altgläubiger und Vorsitzender des Moskauer Börsenausschuss mit Umfangreicher Sammlung an frühen mittelalterlichen Handschriften) auf der Kreenholmi / Kräheninsel im Fluss Narva erbaut wurde.

Die Anlage florierte und wurde rasch erweitert. Die Führungskräfte waren Engländer, die Arbeiterschaft bestand aus Russen und Esten. Auch wenn man lesen kann, dass Knopp soziale Verdienste wie die Einführung der Krankenversicherung, Werkswohnungen, Kindergärten und Schulen zugeschrieben wurden, so war der der Lohn der Arbeiter:innen sehr gering und die Arbeit hart. Kinder und Frauen arbeiten genauso lange wie Männer, bekamen aber weniger Lohn. Die Kinder arbeiten von 5 Uhr morgens bis abends um 8 Uhr und besuchten dann noch 2 Stunden in die Schule. Ganze Familien lebten auf einer Fläche von 10-12m2 (die meisten heutigen Küchen sind grösser) und die hygienischen Umstände waren sehr schlecht. Für die Unterkunft mussten sie etwa ¼ ihres Lohnes bezahlen. Ein weiterer Viertel kostete die Krankenversicherung, und nicht ganz ein weiterer Viertel das Essen in der Kantine. Wer sich aus Sicht der Verwalter nicht korrekt verhalten hat, musste Strafe bezahlen bzw. ein Teil des Lohnes wurde einbehalten. Dies sind Informationen, welche wir während der Führung erhalten haben. Was man im Netz lesen kann, klingt da einiger positiver und eher geschönt.
1872 brach eine Cholera-Epidemie aus, die das Leben von 420 Arbeitern forderte. Die Mitarbeiter:innen verurteilten die Leitung, weil sie nicht in der Lage war die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Die Wiedereinführung einer firmeneigenen Polizeieinheit, die nach der Epidemie zunächst aufgelöst worden war, hatte die Arbeitsniederlegungen und dem ersten grossen Streik auf estnischem Boden zur Folge. Der Streik weitete sich zu einem Aufstand aus, der erst mit staatlichen Truppen niedergeschlagen werden konnte. Eine staatliche Kommission, welche die Vorfälle untersuchte kam zum Schluss, dass die Arbeitsbedingungen verbessert werden mussten. So wurde die Arbeitszeit minimal verkürzt und der Lohn etwas erhöht.

1893 waren 7000 Personen in der Fabrik beschäftigt und 22‘000 Webstühle waren im Einsatz. Ein grosser Teil der Anlage produzierte Garne, welches an Webereien nach Sankt Petersburger und Moskau verkauft wurden. Bei den Weberzeugnissen handelte es sich meist um bedrucktes Tuch unterschiedlicher Ausrüstung und Satin. Die Designs wurden vor Ort entwickelt und hatten einen besonders guten Ruf und bekamen Preise.
1901 übernahmen Knoops Söhne Theodor und Andreas die Fabrik als Direktoren, nachdem der damalige Direktor Johann Prowe verstarb.

Vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigte die Manufaktur bereits über 10.000 Angestellte und stellte jährlich über 70.000 Kilometer halbfertiger Baumwollstoffe her, die in Russland gebleicht, gefärbt und weiterverarbeitet wurden.
Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 besetzte die deutsche Armee Narva. Die Fabrik produzierte Bandagen und Stoffe für die deutschen Kriegsanstrengungen, während sie besetzt war

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Wegfall des russischen Marktes nach der Oktoberrevolution erfuhr die estnische Baumwollindustrie einen schweren Einbruch, der zu einer fast vollständigen Schliessung des Unternehmens führte.
1944 wurde das Werk bei den Kämpfen um Narva schwer beschädigt und in der Folge von den sowjetischen Behörden verstaatlicht. Es wurde wieder aufgebaut und fand zu alter Grösse zurück, nun allerdings nicht mehr privatem Gewinnstreben, sondern zentralistischer Planwirtschaft verpflichtet.

In den 1960er Jahren war das Unternehmen auf den Höhepunkt seiner Produktion zurückgekehrt und wurde einer der grössten Textilhersteller der ehemaligen Sowjetunion. Kreenholmi erweiterte seine Einrichtungen und Produktangebote, auf Gestaltung und Design, um die Gesamte Produktionspalette anzubieten.
In den frühen 1970er Jahren waren 12.000 Personen beschäftigte. 1985 war Kreenholmi eines von drei in Estland ausgewählten Unternehmen, die mit dem Exportieren von Produkten ausserhalb der Sowjetunion und dem Eintritt in ausländische Märkte ausgewählt wurden. Nach 1986 gewann es einen Teil seiner Freiheit zurück und durfte erstmals ohne Genehmigung des Textilministeriums in Moskau Exportverträge abschliessen.
Nachdem Estland 1991 wieder unabhängig wurde, folgte für die Fabrik eine schwierige Zeit der Wiedereingliederung in die globale Marktwirtschaft.1994 wurde die Firma mit einem schwedischen Hauptanteilseigner reprivatisiert. Der Konkurrenzdruck von Textilfirmen aus dem asiatischen Raum war gross.

Anfangs des 20. Jahrhundert erwirtschaftete das Unternehmen immer mehr Verluste. Restrukturierungen kosteten zahlreichen Beschäftigten den Arbeitsplatz. 2003 wurde der Bereich Spinnerei komplett geschlossen und 170 Arbeiter wurden entlassen. Anfang 2004 waren noch 4.600 Arbeiter beschäftigt, von denen im April 2004 weitere 400 entlassen wurden.
2008 gab es dann erste Gerüchte über einen bevorstehenden Konkurs. Im November 2010 musste das Unternehmen schliesslich mit 9,5 Millionen Euro Schulden Insolvenz anmelden. Das Unternehmen wurde an eine Schwedische Gesellschaft verkauft, deren Tochtergesellschaft das Geschäft in geringem Umfang mit 500 Beschäftigten weiterführen wollte. Anfang 2012 erklärte der Vorstandsvorsitzende eine Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit im früheren Umfang sei „absolut unmöglich“.
In jüngster Zeit fanden diverse Kulturelle und private Events auf dem Gelände statt. So wurde das Station Narva Urban Culture Festival und die Narva Opera Days zwischen den Fabrikmauern abgehalten. Das größte Publikum wurde jedoch vom Tartu New Theatre nach Kreenholmi gebracht, das die Tragödie von Jaak Joala in der Joala Street inszenierte. Aber auch Autorennen und private Mitarbeiterveranstaltungen z.B. von Bolt fanden auf dem Gelände statt. Und die historistische Villa, die als Residenz für den technischen Direktor von Kreenholmi John Carr gebaut wurde ist heute eine internationale Künstlerresidenz.

Die schwedischen Eigentümer der Manufaktur, Narva Gate Ltd., haben ehrgeizige Pläne für das 30 Hektar große Areal. So gab es verschiedene Ideen von Wohn-, Unterhaltungs- und Kultureinrichtungen, einem Konferenzzentrum, Hotels und Gewerbebetrieben. Die aktuellsten Pläne, welche mit Bewilligung in den Schubladen bereit liegen, sollten einen Ort der Kultur und Begegnung schaffen. Corona und der Russische Angriff auf die Ukraine haben das Projekt zum Stillstand gebracht. Die Hoffnung ist gross, dass dem heruntergekommenen Areal künftig neues Leben eingehaucht werden kann.
Der Gründer Ludwig Knopp
Ludwig Knopp war das vierte von acht Kindern in einer verarmten Bremer Kaufmannsfamilie. Nach seiner kaufmännischen Lehre ging er zu seinem Onkel, der in Manchester die Textilfirma De Jersey & Co. betrieb. England war im Bereich der maschinellen Baumwollspinnerei und -weberei Vorreiter in Europa, und Knoop lernte dort die industrielle Textilverarbeitung kennen. Als die Firma nach Russland expandierte, ging Knoop in die Niederlassung nach Moskau. Im Russischen Reich wurde er bald zu einem der erfolgreichsten und wohlhabendsten Unternehmer. 1843 heiratete Ludwig Knoop Louise, eine Tochter des deutschbaltischen Kaufmanns Johann Christoph Hoyer. Der Ehe entstammten sechs Kinder. Johann Knoop (1846–1918), genannt Wanja, der älteste Sohn des Barons, besass um 1900 eine der bedeutendsten Instrumentensammlungen der Welt, unter anderem die als Lady Blunt bekannte Stradivari. Ursula von der Leyen, seit dem 1. Dezember 2019 Präsidentin der Europäischen Kommission, Bundesverteidigungsministerin von 2013 bis 2019, ist eine Ur-Ur-Urenkelin von Ludwig Knopp. Am 6. Mai 1877 verlieh der russische Zar Alexander II. Ludwig Knoop den Adelstitel eines Barons.
Architektur
Da Knopp an Saltaire und der Bauweise Gefallen gefunden hat, waren sie Vorbild für die ersten in Naturstein erstellten Bauten.
Saltaire ist eine 1851 gegründete viktorianische Mustersiedlung in England, die in dieser Zeit grosse Aufmerksamkeit erlangte. Der Tuchfabrikant Titus Salt verlagerte sein Unternehmen aus Bradford in das heutige Saltaire, wo er um die neugebaute Fabrik eine Arbeitersiedlung für die etwa 3000 Arbeiter und ihre Angehörigen nach den damals modernsten sozialen und sanitären Grundsätzen erstellen ließ. Die Gebäude aus gelbem Naturstein wurden im Stil der italienischen Renaissance erbaut.
Später kaufte Knopp eine nahe gelegene Backstein-Fabrik und es folgten zwei fünfstöckige und ein vierstöckiges Backsteingebäude. Die Fabrikgebäude sind gekennzeichnet durch hohe Türme, die als Wasserreservoire dienten. Da Baumwolle ein sehr leicht entflammbareres Material ist und der Staub sich über alles zog, gab es auch eine Werkseigene Feuerwehr und strenge Vorschriften für das Rauchen. Im Inneren gab es riesige, durch Metallsäulen mit schmuckem Kapitell gestützte Hallen, in den die Maschinen standen. Schaut man sich alte Bilder an, sieht man riesige Maschinen, die im Laufe der Jahre immer kleiner wurden.


Eine englische Firma lieferte die ersten Maschinen für das Kardieren (Fasern in eine Richtung legen vor dem Spinnen) und Spinnen der Baumwolle. Auch einige Webstühle stammten aus England, die meisten allerdings wurden von der Firma mit eigenen Maschinenbauern in einem Anbau hergestellt. Später kamen die Webmaschinen dann aus der Schweiz von der Firma Sulzer Rüti. Eine solche Maschine aus den 1980er Jahren ist noch vor Ort zu sehen.
Die kleineren, effizienteren Maschinen führten zu mehr Vibrationen, weshalb die Metallstützen mit einem Betonmantel verstärkt werden mussten.

Die Baumwolle kam mit Schiffen direkt aus den USA oder über Liverpool in Narva-Jõesuu an und wurde dort in grossen Lagern bereitgehalten. Je nach Bedarf wurden sie auf dem Fluss zur Fabrik transportiert. Innerhalb des Geländes wurde die Baumwolle erst mit Pferden, später mit der Eisenbahn transportiert.
Die Energie für die Maschinen lieferten ein Stausee mit 11 Wasserturbinen und Dampfmaschinen. Der Stausee und die Turbinen bestehen noch heute. Auch wenn die Landesgrenze Estland-Russland den Staudamm teilt, ist die ganze Anlage heute unter russischer Kontrolle und es fliesst nur noch sehr selten Wasser in den Kanälen. Wenn man rüber schaut sieht man russische Textilanlagen und goldene Türme einer Kirche. Der Mittlere Kanal der Fabrik wurde inzwischen überdeckt und ist nicht mehr ersichtlich.

Die gesamte Anlage ist wirklich riesig. So gab es diverse weitere Bauten im Zusammenhang mit der Fabrik wie Verkaufsladen, Showräume, Stoff- und Materiallager, Stallungen, aber auch die Kantine, Krankenhaus, Schule, Villen der Direktoren und die Arbeiterhäuser.
Die schwer beschädigten Fabrikgebäude wurde mit Mauersteinen aus Kalksandstein durch die Russen wieder aufgebaut. Diese Steine waren leichter und günstiger herzustellen. Auch heute ist das noch gut zu sehen.



Der aktuelle Eigentümer hat alle neueren Anbauten bereits entfernen lassen, damit wieder ein möglichst ursprüngliches Bild ersichtlich wird. Die Dächer und einige Dachaufbauten wie Gauben scheinen instand gestellt worden zu sein. Aus denkmalpflegerischer Sicht bleibt noch einige Arbeit, um den Charakter und die Besonderheit der Anlage zu erhalten. Es bleibt zu hoffen, dass eine gute Möglichkeit das neue Beleben und den Erhalt gefunden werden kann.
Quellen: Wikipedia, VisitEstonia und Informationen der Führung
